Der Olivenhain
Datum: 22.03.2019,
Kategorien:
Romantisch
Autor: Freudenspender
Unruhe treibt mich an. Am Vormittag warte ich einen günstigen Zeitpunkt ab, um die Chefin zu fragen, ob ich die nächste Woche Urlaub nehmen kann. Von meinem Erbe erzähle ich ihr vorerst nichts. So gut befreundet sind wir auch wieder nicht. Sie jammert zwar, dass sie es alleine nicht schafft, sieht dann aber doch ein, dass ich irgendwann sowieso in Urlaub gehen muss. Warum also nicht nächste Woche, in der es aus heutiger Sicht ruhiger sein dürfte? In der Mittagspause setze ich mich vor dem Geschäft auf eine der Bänke. Ich rufe den Notar an, um ihn von meinem Kommen in Kenntnis zu setzen. Ich suche die Visitenkarte und wähle die dort vermerkte Handynummer. Es läutet ein paar Mal, dann meldet er sich. "Signorina Hertig, wie schön, Sie zu hören", begrüßt er mich. Seine Freude wirkt ehrlich. "Ich habe den Brief gelesen und nachgedacht", erkläre ich ihm. Nach einer kurzen Pause spreche ich weiter. "Ich möchte zur Testamentseröffnung kommen. Ob ich das Erbe antreten kann oder will, das möchte ich im Augenblick noch offen lassen. Ich werde mir in Ruhe anschauen, was mich erwartet und erst dann entscheiden." "Wann können Sie hier sein?" "Ich werde am Sonntag mit dem Zug nach Italien fahren." "Dann werde ich Sie am Bahnhof abholen und zum Weingut bringen." "Das ist sehr nett von Ihnen. Finden Sie es sinnvoll, dass ich auf dem Weingut wohne?" "Ihr Vater hat den Wunsch geäußert, dass dort das Testament verlesen wird. Ihre Geschwister wissen noch nicht, dass Sie darin bedacht wurden und ...
vor allem nicht in welchem Ausmaß. Wenn Sie dort wohnen, können Sie sich in aller Ruhe vor der Bekanntgabe des großen Geheimnisses, schon mal ein Bild davon machen. Ich hoffe, das wird Ihnen die Entscheidung erleichtern. Ich würde vorschlagen, wir setzen die Testamentseröffnung auf Dienstag 14 Uhr fest", schlägt er vor. "Wenn Sie meinen. Ich verlasse mich ganz auf Sie", antworte ich. "Kommen Sie auf der Fahrt zurecht? Sie können vermutlich kein Wort Italienisch." "Keine Sorge, meine Mutter hat mich dazu gedrängt einen Italienischkurs zu besuchen. Heute weiß ich warum sie dabei so hartnäckig war. Ich spreche zwar nicht perfekt die Sprache, doch es reicht, mich zurechtzufinden." Wir vereinbaren noch einige Details zu meiner Fahrt und beenden das Gespräch. Das wäre also erledigt. Ich hoffe, dass ich keine Dummheit gemacht habe. Die Unsicherheit, die an mir nagt, ist mir neu. Ich bin eigentlich spontan und sehr entscheidungsfreudig. Doch in diesem Fall ist es anders. Nach dem Telefonat bleibe ich noch etwas sitzen. Ich habe es tatsächlich getan! Ich werde nach Italien reisen und den Ort besuchen, an dem mein leiblicher Vater sich so wohlgefühlt hat. Ich bin immer stärker davon überzeugt, dass es auch der Ort war, an dem meine Mutter glücklich war. Sie hat ihr Leben lang feuchte Augen bekommen, wenn von Italien die Rede war. Auch die Tatsache, dass sie mich zum Italienischlernen geschickt hat, dürfte wohl in der weisen Voraussicht geschehen sein, ich könnte eines Tages doch noch ...