1. Handikap


    Datum: 12.03.2018, Kategorien: Romantisch Autor: Achterlaub

    der Fensterbrüstung. Obwohl es von außen nicht recht zu erkennen war, muss sie sich stets aufrecht gehalten haben. Nie ließ sie eine Bewegung des Oberkörpers erkennen. Sie erschien vielmehr wie eine gemalte Person im Rahmen des Fensters. Dass ich Helen noch heute so genau beschreiben kann, liegt daran, dass ich sie nun schon seit Jahren kenne. Aber dennoch denke ich, dass der erste äußerliche Eindruck auf mich in etwa so gewesen war, wie ich es versucht habe zu beschreiben. Es tut nichts zur Sache, wie wir damals bekannt und später befreundet wurden. Wichtig scheint mir nur, dass unsere Verbundenheit nie im eigentlichen Sinne sexuell geprägt war. Man muss sich eher eine innige Verbindung auf gleicher Augenhöhe unter Wesensgleichen, unter Busenfreunden oder unter Blutsbrüdern vorstellen. Dieses innige, tiefe Empfinden für diese Frau gibt mir die Möglichkeit, legt mir zugleich aber auch die Verpflichtung auf, über sie und ihr Schicksal zu berichten, von dem ich in unzähligen Stunden gemeinsamer Gespräche, gemeinsamen Lachens wie nachdenklicher Ruhe erfahren habe. Helen hatte eine sehr glückliche Kindheit und Jugend. Ihre Eltern waren warmherzig und unternahmen alles, ihrem einzigen Kind das Beste zukommen zu lassen. Dann kam ihr 16. Geburtstag, in dessen Folge sich ihr ganzes Leben nachhaltig verändern sollte. Wie in all den anderen Jahren, waren sie zur Osterzeit in den Skiurlaub nach St. Moritz gefahren. Da beide Eltern in höherer Position bei einer kleinen Regionalbank ...
     beschäftigt waren, konnte sich die Familie diesen Luxus durchaus leisten. Nur wenige Stunden trennten die glückliche Familie noch von dem Beginn des Alltags. Dann auf der Heimfahrt bei Karlsruhe, Helen war gerade eingenickt, nahm das Schicksal diese böse Wendung. Ein Lkw-Fahrer war eingeschlafen und raste ungebremst in das Fahrzeug der Kleinfamilie. So hieß es jedenfalls später in der dpa-Nachricht. Die Eltern waren sofort tot, Helen schien nur leicht verletzt. Im Krankenhaus dann spürte sie nach dem Aufwachen aus der Bewusstlosigkeit ihre Füße nicht mehr. Es begannen die notwendigen Untersuchung, bis nach vier Wochen feststand, dass Helen vom Unterleib ab querschnittsgelähmt bleiben würde. "Nichts bleibt so, wie es ist", sang in diesen Tagen Xavier Naidoo; und das traf im Besonderen auf Helen zu. Alle schulischen und beruflichen Ambitionen - Helen wollte Sportlehrerin werden - waren dahin. Der als vorzüglich zu erwartende Gymnasialabschluss verkümmerte zu einem Realschulabschluss mit Ach und Krach. Da keine näheren Verwandten existierten, hatte sie die nächsten Jahre in einer Behinderteneinrichtung verbringen müssen, bis sie über unzählige Reha-Maßnahmen endlich auf ein selbständiges Leben vorbereitet war. Statt des ursprünglich avisierten Berufs absolvierte sie eine kaufmännische Lehre, in der sie glücklicherweise sogleich eine dauerhafte Anstellung fand. So etwa mit 23 Jahren dann hatte sie ihr Geleis für den weiteren Lebensweg gefunden. Sie war nun selbständig, verfügte über ...
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