1. Handikap


    Datum: 12.03.2018, Kategorien: Romantisch Autor: Achterlaub

    Handikap Helen war eine bezaubernde junge Frau. Ich nahm sie das erste Mal wahr im Vorbeigehen. Gedankenverloren schaute sie aus dem Fenster ihrer Erdgeschosswohnung in den Himmel. Ihr schwermütiger Blick, scheinbar in das Nichts, zog mich an. Helen blickte durch tief braune Augen, deren Betrachtung sich dem Zuschauer in regelmäßigen Zeitabständen durch die Auf-und-Ab-Bewegung ihrer schweren, konturgeschärften Lider entzog. Jene kurzen Momente eröffneten die Aussicht auf bläulich gefärbte Liddeckel, umrahmt von einem feinen schwarzen Strich, und sozusagen wie eine Markise gaben die langen kräftigen Wimpern dem Auge Schatten. Wenn sich dann das Lid wieder hob, war der Blick auf diese feine Iris eröffnet, von der man nur vermuten konnte, dass sich in ihr die Umgebung spiegeln würde. Was den Anblick dieser jungen Frau von etwa Mitte zwanzig auf sich zog und sie damit von den mannigfaltigen anderen Eindrücken des Vorbeieilenden abhob, war ihre madonnenhafte, geradezu statuenhafte Haltung. Helen war geradezu ein Abbild ihres Namens. Sie wirkte einer in Marmor geschlagenen Büste gleich. Diese festen, gleichförmigen Lippen forderten Zärtlichkeit. Sie zeigten Sehnsucht nach dem innigen Kuss. Nicht nach einem verlangenden Aufeinanderpressen der Lippen, das kurz darauf in ein Schnäbeln und dann in ein wollüstiges Knutschen mündet, sondern nach dem warmherzigen, liebevollen Kuss der jungen Mutter. Ich habe mich schon damals gefragt, worauf dieser Eindruck beruht haben könnte. Heute ...
     meine ich, dass es nicht allein die wundervolle Form oder der dezent aufgetragene rosa farbige Lippenstift gewesen sein kann. Es muss der besondere Ausdruck innerer Haltung gewesen sein, was sie mir nahezu göttlich erscheinen ließ. In den Sommertagen konnte ich regelmäßig diesen Anblick genießen. Ich wartete schon beinahe darauf, dass sich Helen am Fenster zeigen würde. Zuweilen wischte ein Lächeln über ihr Gesicht. Es bedurfte nur einer kaum merklichen Bewegung ihrer Mundwinkel, und dem Betrachter legte sich die ganze Schönheit ihres Antlitzes vor das Auge. Dann traten ihre leicht vorstehenden Wangenknochen hervor und gaben dem ganzen Antlitz eine exotische Note. Und wenn diese wunderschöne Frau einmal lächelte, zeigte sie auf den mit feinem Rouge bepinselten Wangen kleine Grübchen. Das machte sie auf einen Augenblick strahlender und verschaffte ihr eine besondere jugendliche Ausstrahlung. Trotz alledem haftete ihr stets dieses Statuenhafte an. Selbst wenn der Wind durch ihre langen, schwarzen Haare fuhr und einige Härchen über das Gesicht warf, hatte ich immer den Eindruck, auf etwas Steinernes und gleichzeitig Belebtes zu schauen. Es war eigentlich nur in solchen Momenten möglich, ihr Alter richtig einzuschätzen. Denn nur wenn das dunkle Haar Schatten auf ihr Antlitz warf, konnte man die feinen Fältchen um Mund und Augen erkennen. Dieser ganz besondere Eindruck mag davon herstammen, dass Helen nie direkt am Fenster erschien. Es war immer eine gewisse Distanz zwischen ihr und ...
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