1. Jungfer Mary


    Datum: 14.11.2017, Kategorien: Romantisch Autor: rokoerber

    Mary laut. Doch keiner vermochte sie zu hören. Geister sind körperlose Wesen, sie können zwar durch Türen dringen, können jedoch nichts körperlich erfassen, ja, sie haben nicht einmal eigene Gefühle. Nur ihre Gedanken scheinen zu leben. So war es natürlich auch mit Mary. Sie konnte nur denken, hören und sehen, aber nicht fühlen. Wie kann man aber über etwas nachdenken, das man noch nicht einmal gefühlt, nur geahnt hat. Mary war ja immer noch sehr jung. Geister altern nur sehr langsam. Genau genommen weniger als einen Tag im Jahrhundert. So will es das Schicksal, jeder Geist hat an jedem Todestag das Recht, für ein paar Stunden seine normale Gestalt annehmen zu dürfen. "Oh, Felan aus den Wäldern, wie hasse ich dich dafür, dass du bösartiger Druide mich zum Geiste verflucht hast, und das, nur weil ich dir nicht zu Willen war, sondern mit dir, der du mich so gnadenlos umklammert hieltest, vom Dachrand sprang." Alleine beim Gedanken an ihn, den Ruchlosen, schwang sie voll Zorn ihre Arme in Abscheu vor ihm so heftig, dass eine der Fackeln in der Eingangshalle durch den Luftwirbel erlosch. Es waren echte Fackeln, wenn eigentlich auch nur zur Dekoration für die Gäste gedacht. Das störte Mary nicht. Ihre Pläne für die Nacht waren andere; sie wollte sich diesen neuen jungen Gast näher besehen. Der ältere Gast interessierte sie nicht - er könnte ihr Vater sein. Sie aber träume von einem jungen, starken und vor allem schönen Mann. Einem, wie es ihr Sean war. Sie wusste nur zu genau, ...
     da gab es noch so vieles zu erkunden. Sie brauchte nicht leise zu sein, bei dem hellen Licht dieser modernen Fackeln würde er ihre äußere Gestalt auch kaum erkennen. Sie drang durch die Türe, nur der Vorhang bewegte sich ein wenig, als sie ins Zimmer kam. Ja, da war er. Sie ging näher zu ihm, besah ihn sich ganz genau, strich ihm sogar über die Haare, wohl wissend er würde es nicht spüren. Oh, wie gerne wäre sie jetzt körperlich bei ihm. Dass es da etwas gibt, hatte sie erst vor zwei Jahrhunderten durch Zufall entdeckt. Sie hatte schon so oft unerkannt einem Pärchen bei ihren Liebesspielen zugesehen, hinter einem Vorhang verborgen. Das Liebesspiel erregte sie so sehr, dass sie sich an ihre Schmuckdose griff. Aber irgendetwas war damals anders - sie hatte plötzlich schöne Gefühle dabei. Bis sie jedoch dazu kam, diese auszukosten, traf ein erster Sonnenschein durchs Fenster. Die Chance war für ein weiteres Jahr vertan. Sie benötige viele Jahrzehnte, bis jemand in der Bibliothek die Geschichte las, wo erklärt wurde, dass Geister alle Jahre einmal das Privileg der Verstofflichung genießen. Mary las mit und wusste fortan Bescheid. Doch wieder hatte sie das Pech, das sie scheinbar verfolgte; an ihrem nächsten Todestag war alles zur Jagd, nur ein paar Weiber waren im Haus. Die waren nie das Sehnen von Mary. Erst ganz knapp vor dem Morgengrauen kam der alte Butler von einer ausgedehnten Zechtour zurück ins Haus. Mary wollte es wissen, sie umarmte ihn stürmisch. Doch der betrunkene ...
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