1. Gedanken


    Datum: 20.11.2017, Kategorien: Nicht festgelegt, Autor: byarne54

    Wir sitzen auf der alten Holzbank unserer Terrasse und warten auf den Abend. Die Sonne steht am Horizont wie ein glühend roter Ball über dem Wald. Ich habe meinen Arm um deine Schulter gelegt und dein Kopf liegt an meiner Brust. Dein blondes Haar leuchtet in der Abendsonne und du atmest ruhig. Gedanken schwirren wie ein Schwarm Bienen durch meinen Kopf. Warum ich? Warum gerade ich? Wie konnte es dazu kommen? Wie lange kenne ich dich jetzt schon? Eigentlich seit deiner Geburt. Christine und Rainer, deine Eltern, waren Schulkameraden von mir und sind unsere Nachbarn. Viele Stunden haben wir zusammen verbracht. Und als du das Licht der Welt erblickt hast, habe ich deine Mutter im Spital besucht und dich zum ersten Mal in meinen Armen gehalten. Was warst du für ein süßes Baby. Klein, mit blonden Löckchen und blauen Augen, hast du meiner kleinen Tochter zum Verwechseln ähnlich gesehen. Ein Jahr später bist du mit deinen kurzen Beinchen durch unseren Garten gestolpert, hast dich von Eveline überall hintragen lassen und warst eine ständige Quelle der Erheiterung für uns Erwachsene. Ich habe dich mit dem Kinderwagen umher geschoben, wenn Christine mal im Stress war, sogar deine Windeln habe ich dir ein paarmal gewechselt. Eveline, die 5 Jahre älter ist und du, ihr wart dicke Freundinnen. Alles hätte so schön sein können. Doch dann kamen dunkle Zeiten. Meine Ehe ging in die Brüche, ich zog mich zurück und wechselte in die Gastronomie. Meine Eltern besuchte ich kaum noch und du ...
     warst vergessen. Mein einziger Halt und Fixpunkt in meinem Leben war Eveline, die den Kontakt zu mir niemals abreißen ließ. Viele Jahre gingen ins Land. Dann, ganz plötzlich und unerwartet starb mein Vater vor zwei Jahren und als ältester Sohn wusste ich, was meine Pflicht war. Mutter brauchte uns Kinder mehr denn je. Ich kam also nach Hause und eine wunderschöne junge Frau lief mir schon in den ersten Tagen über den Weg. Das warst du. Aber ich erkannte dich nicht. Ein Motorradunfall vor vier Jahren hat mir viel von meinen Erinnerungen genommen. Ich musste sehr viele Dinge von neuem lernen und in langen Gesprächen all das Vergessene wieder auffrischen. Wir haben oft in unserem Garten zusammen gesessen und du hast mir Bilder von früher gezeigt und mir viele Dinge erklärt. Ganz langsam haben sich die Lücken wieder geschlossen und ich habe mir geschworen, nie wieder etwas zu vergessen, da ich weiß, wie schwer es ist, Erinnerungen zurück zu holen. Dann starb deine Mutter und du musstest die Verantwortung für deine jüngeren Geschwister übernehmen. Mein Gott, du warst doch selbst noch so jung. Du hast meine Nähe gesucht und wir haben tagelang bis in die Nacht geredet. Unser gemeinsames Leid hat uns zusammen geschweißt. Und immer mehr wurdest du für mich mehr, als die Nachbarstochter, die ich schon als kleines Kind auf meinem Schoß sitzen hatte. Was für eine groteske Situation! Ich, ein alter Mann, verliebte mich in eine Frau, die 34 Jahre jünger ist als ich. Unmöglich! Undenkbar! ...
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